17.01.2023
BGH zu Schlecker: Tatsächliche Schadensvermutung ad infinitum
Zwischen 2008 und 2013 verhängte das Bundeskartellamt Bußgelder wegen eines Informationsaustausches zwischen Herstellern von Drogeriewaren aus den Jahren 2004-2006. Der Fall war atypisch: keineswegs alle Beteiligten standen miteinander im Wettbewerb und man hat sich im Wesentlichen um den Stand der Jahresgespräche mit dem LEH einschließlich Schlecker ausgetauscht.
Der Kartellsenat des BGH hat sich mit dem Fall besonders schwergetan:
Pressemitteilung im Vorfeld der mündlichen Verhandlungen
Zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung am 8. Juli 2022 hatte der BGH eine Pressemitteilung veröffentlicht, aus der man entnehmen musste, dass es in diesem Fall vor allem darum gehen würde, ob das OLG Frankfurt die Klage von Schlecker abweisen durfte, ohne ein gerichtliches Sachverständigengutachten zu beauftragen. Zur Überraschung aller Anwesenden (mit Ausnahme natürlich der Richterbank) stellte der Vorsitzende Wolfgang Kirchhoff von Anfang an ein ganz anderes Thema in den Vordergrund, nämlich die Frage, ob das OLG bei der Anwendung der tatsächlichen Schadensvermutung Rechtsfehler begangen habe. Keiner der BGH- Anwälte war darauf vorbereitet und nicht alle waren in der Lage, so schnell das Thema zu wechseln.
Verkündungstermin verschoben
Noch in der mündlichen Verhandlung hatte der Vorsitzende die Verkündung einer Entscheidung auf den 23.Oktober 2022 terminiert. Der Tenor wurde dann dennoch erst am 29. November bekanntgegeben.
Äußerst anspruchsvolle Lektüre
Das Urteil ist mit 44 Seiten nicht übermäßig lang, es ist aber mit bis zu sieben Gliederungsebenen (selbstverständlich ohne Zwischenüberschriften) hochgradig unübersichtlich. Im Ergebnis dehnt der Kartellsenat die tatsächliche Schadensvermutung, die bereits mit Schienenkartell I eingeführt worden war und die seither manche Weiterentwicklung der Rechtsprechung überlebt hat, noch weiter aus.
BGH erweitert Rechtsprechung zum Sammelklage-Inkasso
Der für Dieselklagen zuständige VIa. Senat hat die liberale Rechtsprechung des BGH zu den Befugnissen von Rechtsdienstleistern fortgeführt: Eine Inkassolizenz erlaubt auch die klageweise Geltendmachung von Ansprüchen, die schweizerischem Recht unterliegen. Darüber hinaus bestätigt der BGH seine Rechtsprechung, wonach das Geschäftsmodell des Sammelklage-Inkasso mit dem RDG vereinbar ist, soweit kein Interessenkonflikt i.S. des § 4 RDG a.F. vorliegt. Dabei führt der Senat die bisherige Rechtsprechung zweier anderer Senate fort: Dass im zur Entscheidung stehenden Fall – anders als im Fall AirDeal -- eine große Anzahl unterschiedlicher Ansprüche gebündelt worden ist, rechtfertigt keine andere Beurteilung. Schließlich führt auch die Einschaltung eines Prozessfinanzierers zu keinem anderen Ergebnis.
06.08.2021
Klageindustrie in Deutschland? Das „Sammelklage-Inkasso“ ist zulässig.
Das Urteil des BGH vom 13. Juli 2021 (II ZR 84/20) klärt eine Reihe von Rechtsfragen im Zusammenhang mit den verbreiteten Geschäftsmodellen, bei denen die Ansprüche mehrerer potenziell Geschädigter an einen mit einer Inkassolizenz ausgestatteten Rechtsdienstleister abgetreten und gegen eine Erfolgsbeteiligung gebündelt gegen einen oder mehrere Beklagten geltend gemacht werden.
Im vorliegenden Fall machte der Rechtsdienstleister gegen den in der Krise von Air Berlin tätigen Geschäftsleiter Ansprüche wegen Insolvenzverschleppung geltend: Die Tickets der Kunden waren durch die Insolvenz von Air Berlin wertlos geworden und der Anspruch auf Rückerstattung des Flugpreises war in die Insolvenzmasse gefallen. Anders als das Landgericht Berlin und das Kammergericht hält der BGH die Abtretungen für wirksam.
Das ausführlich begründete Urteil liegt ganz auf der klägerfreundlichen Linie, welche der Bundesgerichtshof derzeit auf vielen Gebieten verfolgt. Im Gegensatz zu vielen Landgerichten deckt eine nach § 10 Abs. 1 Nr. RDG erteilte Inkassolizenz die Einziehung einer Forderung auch dann, wenn von vornherein mit einer gerichtlichen Geltendmachung zu rechnen war (vgl. Leitsatz 1). Dieses rechtspolitisch höchst umstrittene Ergebnis kann nicht wirklich überraschen, denn die gerichtliche Geltendmachung erfolgt nach den insoweit anzuwendenden Regeln der ZPO ausschließlich durch Rechtsanwälte.
Komplexer ist die Frage einer möglichen Interessenkollision i.S. § 4 RDG (Rn. 45-64 des Urteils). Insoweit nimmt der Senat keinen Anstoß an daran, dass sich die Zessionarin in ihren AGB von den Kunden hat ermächtigen lassen, auch ohne Zustimmung der Kunden unwiderrufliche Vergleiche abzuschließen. Zum einen bestehe in aller Regel ein Gleichlauf zwischen den Interessen der Kunden und der Klägerin; zum anderen könne der Kunde im Falle eines widerruflichen Vergleichs die Vor- und Nachteile eines vorgeschlagenen Vergleichs ohnehin nur schwer selbst abwägen.
Eine relevante Interessenkollision i.S. § 4 RDG könne insbesondere darin liegen, dass die Klägerin sich gegenüber all ihren Kunden jeweils zur bestmöglichen Durchsetzung der abgetretenen Forderungen verpflichtet, diese Ansprüche jedoch unterschiedliche Durchsetzungsaussichten haben. Der BGH hält dem zunächst die erheblichen Vorteile einer gebündelten Geltendmachung entgegen. Im Übrigen sei dies umso unproblematischer je mehr die Durchsetzungsaussichten der jeweiligen Forderungen rechtlicher bzw. tatsächlicher Hinsicht übereinstimmen. Im vorliegenden Fall unterschieden sich die Ansprüche hinsichtlich eines einzigen Parameters, nämlich in Bezug auf den Zeitpunkt und damit die Nähe zur Insolvenzreife, zu dem die Kunden ihre Flugtickets gekauft haben. Im Übrigen lassen sich nach Ansicht des BGH Unterschiede in den Erfolgsaussichten durch Bildung von Anspruchsgruppen abbilden.
Praxisfolgen: Die Auswirkungen dieses Urteils auf die vor allem im Bereich des Kartellschadensersatzes anhängigen großvolumigen Klageverfahren können kaum überschätzt werden. Allerdings unterscheiden sich die in den Kartellschadensersatzklagen gebündelten Ansprüche verschiedener Abnehmer in der Regel deutlicher voneinander als dies bei der vom BGH entschiedenen Fallgestaltung der Fall war. Und eine Gruppenbildung dürfte nicht immer erfolgt sein. Ob, eine relevante Interessenkollision unterstellt, § 4 RDG ein Verbotsgesetz mit der Folge der Nichtigkeit des Abtretungsvertrages darstellt, hat der BGH offengelassen; insoweit scheint der BGH die Messlatte eher hoch zu legen. Schließlich bot der dem BGH vorliegende Fall keine Veranlassung, zu der Frage Stellung zu nehmen, ob die zusätzliche Einschaltung eines Prozessfinanzierung zu einem anderen Ergebnis führen könnte.
04.12.2020
Schienenkartell V – Ein weiteres Grundsatzurteil des BGH
Das Urteil des BGH stellt die Reaktion auf die drei Urteile des OLG Düsseldorf vom 23. Januar 2019 dar. Bekanntlich hatte der erste Kartellsenat des OLG Düsseldorf unter seinem selbstbewussten Vorsitzenden Jürgen Kühnen darin das Urteil des BGH in Schienenkartell I (KZR 26/17) in der Sache vollkommen zu Recht kritisiert; der im September 2019 neu aufgestellte Kartellsenat hat sich diese Kritik durchaus zu Herzen genommen (vgl. KZR 24/17 - Schienenkartell II, hierzu Weitbrecht, BB 2020, 1107 und WUW 2020, 257). In der Form und Heftigkeit musste diese Kritik eines Berufungsgerichts an einem soeben ergangenen Urteil des BGH allerdings als außergewöhnlich, um nicht zu sagen ungehörig, erscheinen.
Der BGH nutzt dieses besonders sorgfältig ausgearbeitete Urteil dazu, sowohl den Umfang der klägerischen Beweislast im Rahmen der tatsächlichen Schadensvermutung als auch den Umfang der Beweislast der Beklagten bei der Passing-on Defense zu konkretisieren: Sechs Monate nach Schienenkartell IV (KZR 8/18, hierzu Weitbrecht DB 2020, 2341) vertieft der Kartellsenat seine Rechtsprechung zu den Voraussetzungen, unter denen eine Passing-on Defense möglicherweise erfolgreich sein kann. Im Gegensatz zum OLG Düsseldorf anerkennt der BGH, dass die Beklagten die – ökonomisch ohnehin nahe liegende – Weiterwälzung des erhöhten Kartellpreises an die Kunden des ÖPNV schlüssig vorgetragen haben (Rn. 34-47).
Dennoch greife der Passing-on Einwand im vorliegenden Fall nicht durch. Denn entscheidend komme es nicht auf den ökonomischen sondern auf den rechtlichen Schadensbegriff an, dessen Wertungen letztlich aus § 242 BGB hergeleitet sind. Wenn die mittelbaren Abnehmer (hier die Kunden des ÖPNV) ihre Streuschäden nicht geltend machen, würde die Anerkennung einer Passing-on Defense zu einer ungerechtfertigten Entlastung des Kartellbeteiligten führen, was u.a. dem Präventionszweck des privaten Kartellschadensersatzes widerspreche (Rn. 48-58). In diesem Rahmen ist der Kartellsenat des BGH bereit, eine Überkompensation des unmittelbaren Abnehmers in Kauf zu nehmen, bis hin zur möglichen Folge eines -- dem deutschen Recht grundsätzlich fremden (BGH, 25. Mai 2020, VI ZR 252/19, Rn. 67 – Dieselgate) – Strafschadensersatzes (Rn. 52).
30.09.2020
Schienenkartell IV – BGH-Urteil zum passing-on
Mit seinem Urteil vom 19.05.2020 zum Schienenkartell nimmt der BGH erstmals zu Fragen der Vorteilsausgleichung und insbesondere zur passing-on Defense im Kartellschadensersatz Stellung. Im konkreten Fall schließt der BGH eine schadensmindernde Vorteilsausgleichung wegen einer angeblichen Weiterleitung des Schadens an die nachgelagerten Abnehmer, hier die Kunden des ÖPNV, aus.
Der BGH betont die Komplexität der Preisbildung im ÖPNV, in die nicht nur die möglicherweise kartellbedingt marginal erhöhten Investitionskosten eingehen sondern auch soziale Gesichtspunkte eine erhebliche Rolle spielen; zusätzlich weist er auf die enormen Schwierigkeiten hin, diesen allenfalls marginalen kartellbedingten Anteil mit Mitteln der Ökonometrie zuverlässig zu bestimmen. Im Übrigen sei ohnehin nicht zu erwarten, dass die Passagiere des ÖPNV ihre Schadensersatzansprüche gegen die Kartellbeteiligten geltend machen werden -- und sie es bisher auch noch nicht getan haben. In dieser Situation brauche der Kartellbeteiligte mit einer mehrfachen Inanspruchnahme für denselben Schaden nicht zu rechnen, sodass ihn die Versagung der Vorteilsausgleichung nicht unbillig belaste. Der präventiven Funktion der kartellrechtlichen Schadenersatzansprüche sei dann im Zweifel Vorrang vor dem Verbot einer Überkompensation des Geschädigten einzuräumen (Rn. 62 a.E.).
Erste Einschätzung
Im vorliegenden Fall hat der BGH den Einwand der schadensmindernden Weiterleitung zurückgewiesen, u.a. unter Hinweis auf die Besonderheiten der Preisbildung im ÖPNV, die nicht allein kommerziellen Erwägungen folgt. In welchen anderen Konstellationen der Einwand der Schadensabwälzung in Zukunft noch Erfolg versprechen wird, ist schwer zu prognostizieren: Insbesondere hat der BGH offengelassen, ob es für die Verweigerung einer Vorteilsausgleichung ausreichen wird, dass die mittelbaren Abnehmer ihre Ansprüche nicht geltend machen. Mit diesem klägerfreundlichen Urteil sind die Chancen für eine erfolgreiche Geltendmachung der passing-on Defense jedenfalls nicht gestiegen.