04.12.2020
Schienenkartell V – Ein weiteres Grundsatzurteil des BGH
Das Urteil des BGH stellt die Reaktion auf die drei Urteile des OLG Düsseldorf vom 23. Januar 2019 dar. Bekanntlich hatte der erste Kartellsenat des OLG Düsseldorf unter seinem selbstbewussten Vorsitzenden Jürgen Kühnen darin das Urteil des BGH in Schienenkartell I (KZR 26/17) in der Sache vollkommen zu Recht kritisiert; der im September 2019 neu aufgestellte Kartellsenat hat sich diese Kritik durchaus zu Herzen genommen (vgl. KZR 24/17 - Schienenkartell II, hierzu Weitbrecht, BB 2020, 1107 und WUW 2020, 257). In der Form und Heftigkeit musste diese Kritik eines Berufungsgerichts an einem soeben ergangenen Urteil des BGH allerdings als außergewöhnlich, um nicht zu sagen ungehörig, erscheinen.
Der BGH nutzt dieses besonders sorgfältig ausgearbeitete Urteil dazu, sowohl den Umfang der klägerischen Beweislast im Rahmen der tatsächlichen Schadensvermutung als auch den Umfang der Beweislast der Beklagten bei der Passing-on Defense zu konkretisieren: Sechs Monate nach Schienenkartell IV (KZR 8/18, hierzu Weitbrecht DB 2020, 2341) vertieft der Kartellsenat seine Rechtsprechung zu den Voraussetzungen, unter denen eine Passing-on Defense möglicherweise erfolgreich sein kann. Im Gegensatz zum OLG Düsseldorf anerkennt der BGH, dass die Beklagten die – ökonomisch ohnehin nahe liegende – Weiterwälzung des erhöhten Kartellpreises an die Kunden des ÖPNV schlüssig vorgetragen haben (Rn. 34-47).
Dennoch greife der Passing-on Einwand im vorliegenden Fall nicht durch. Denn entscheidend komme es nicht auf den ökonomischen sondern auf den rechtlichen Schadensbegriff an, dessen Wertungen letztlich aus § 242 BGB hergeleitet sind. Wenn die mittelbaren Abnehmer (hier die Kunden des ÖPNV) ihre Streuschäden nicht geltend machen, würde die Anerkennung einer Passing-on Defense zu einer ungerechtfertigten Entlastung des Kartellbeteiligten führen, was u.a. dem Präventionszweck des privaten Kartellschadensersatzes widerspreche (Rn. 48-58). In diesem Rahmen ist der Kartellsenat des BGH bereit, eine Überkompensation des unmittelbaren Abnehmers in Kauf zu nehmen, bis hin zur möglichen Folge eines -- dem deutschen Recht grundsätzlich fremden (BGH, 25. Mai 2020, VI ZR 252/19, Rn. 67 – Dieselgate) – Strafschadensersatzes (Rn. 52).
30.09.2020
Schienenkartell IV – BGH-Urteil zum passing-on
Mit seinem Urteil vom 19.05.2020 zum Schienenkartell nimmt der BGH erstmals zu Fragen der Vorteilsausgleichung und insbesondere zur passing-on Defense im Kartellschadensersatz Stellung. Im konkreten Fall schließt der BGH eine schadensmindernde Vorteilsausgleichung wegen einer angeblichen Weiterleitung des Schadens an die nachgelagerten Abnehmer, hier die Kunden des ÖPNV, aus.
Der BGH betont die Komplexität der Preisbildung im ÖPNV, in die nicht nur die möglicherweise kartellbedingt marginal erhöhten Investitionskosten eingehen sondern auch soziale Gesichtspunkte eine erhebliche Rolle spielen; zusätzlich weist er auf die enormen Schwierigkeiten hin, diesen allenfalls marginalen kartellbedingten Anteil mit Mitteln der Ökonometrie zuverlässig zu bestimmen. Im Übrigen sei ohnehin nicht zu erwarten, dass die Passagiere des ÖPNV ihre Schadensersatzansprüche gegen die Kartellbeteiligten geltend machen werden -- und sie es bisher auch noch nicht getan haben. In dieser Situation brauche der Kartellbeteiligte mit einer mehrfachen Inanspruchnahme für denselben Schaden nicht zu rechnen, sodass ihn die Versagung der Vorteilsausgleichung nicht unbillig belaste. Der präventiven Funktion der kartellrechtlichen Schadenersatzansprüche sei dann im Zweifel Vorrang vor dem Verbot einer Überkompensation des Geschädigten einzuräumen (Rn. 62 a.E.).
Erste Einschätzung
Im vorliegenden Fall hat der BGH den Einwand der schadensmindernden Weiterleitung zurückgewiesen, u.a. unter Hinweis auf die Besonderheiten der Preisbildung im ÖPNV, die nicht allein kommerziellen Erwägungen folgt. In welchen anderen Konstellationen der Einwand der Schadensabwälzung in Zukunft noch Erfolg versprechen wird, ist schwer zu prognostizieren: Insbesondere hat der BGH offengelassen, ob es für die Verweigerung einer Vorteilsausgleichung ausreichen wird, dass die mittelbaren Abnehmer ihre Ansprüche nicht geltend machen. Mit diesem klägerfreundlichen Urteil sind die Chancen für eine erfolgreiche Geltendmachung der passing-on Defense jedenfalls nicht gestiegen.